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Geschichte ist machbar -

Die Entfremdung der Arbeit und ihre Überwindung

von

Arfst Wagner

 

Jochen Steffen, in den 60er Jahren Oppositionsführer der SPD im Schleswig-Holsteinischen Landtag, soll einmal gesagt haben, als man auf "die Arbeiter" zu sprechen kam, den letzten Arbeiter habe er Anfang der 50er Jahre in Kiel auf der Werft getroffen. Seither gäbe es keinen mehr.

Ob man dem nun zustimmt oder nicht: Selbst wenn es keine klassischen Arbeiter mehr in Deutschland gäbe, gibt es doch Lohnempfänger und jede Menge Arbeit. An Arbeit herrscht kein Mangel. Aber es fehlt am Geld, diese zu bezahlen. Auf der anderen Seite wird über die Bundesanstalt für Arbeit immer mehr Geld ausgezahlt, um Menschen, die keine Arbeit mehr haben, den Lebensunterhalt zu ermöglichen. Aber auch dieses Geld wird langsam knapp.

Entfremdung und Verantwortung

Das ökonomische Denken wird u.a. von den Gedanken beherrscht, die um Gewinn, Produktion und Konsumtion kreisen. Immer wieder können wir in den verschiedenen Tarifverhandlungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern das Feilschen um Prozente beobachten. Dabei ist die Lohn-Preis-Spirale, also das gegenseitige Höherschaukeln von Lohn und Preis, bereits zu Beginn unseres Jahrhunderts als gravierendes Problem erkannt worden.

Ein ähnlich gelagertes Problem ist mit der Frage der verantwortlichen Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse verbunden. In vielen Zusammenhängen wird die einseitige Auffassung vertreten, der Mensch sei nur das Produkt der Verhältnisse seiner Umgebung. Doch diese Verhältnisse sind wiederum von Menschen gemacht. Die Verhältnisse, in denen wir heute leben, sind großenteils von Menschen früherer Generationen gemacht worden. Und wir gestalten nun wiederum die grundlegenden Verhältnisse und Lebensbedingungen der nächsten Generation. Die Anschauung, dass die Verhältnisse allein den Menschen bestimmen, suggeriert, dass der Mensch letztlich für diese nicht verantwortlich ist. Diese Verantwortung liegt jedoch beim Menschen, und er lebt sie gerade in seiner Arbeit aus. Das Ignorieren dieses Zusammenhangs führt zu einer der tragischsten und heute viel zu gering beachteten Folgen des Arbeitsprozesses: zur Entfremdung der Arbeit im Arbeitsprozeß selbst. Die Entfremdung der Arbeit bewirkt die Auflösung der Verantwortung des einzelnen für die Ergebnisse der Arbeit. Daraus ergibt sich eine zweite Spiralbewegung: die Spirale von Entfremdung der Arbeit und mangelnder Verantwortung.

Die Lohn-Preis-Spirale

Im Jahre 1905 verwies Rudolf Steiner in einem Vortrag auf die Problematik der Lohn-Preis-Spirale im Zusammenhang mit einer wünschenswerten und notwendigen Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse:

"Wollen Sie in der Zukunft solche Verhältnisse um sich herum haben, wollen Sie das als Einrichtung, als Institution haben, was die Menschen befriedigt, von dem die Menschen werden sagen können, das ist es, unter solchen Verhältnissen wollen wir leben, dann müssen sie zuerst Menschlichkeit hineingießen in diese Verhältnisse, damit Menschlichkeit aus ihnen wieder herausströmt. [...]

Auch unser Proletariat hat keine Ahnung von dem, was hier vorliegt. Was gefordert ist, ist mehr Lohn und kürzere Arbeitszeit. Betrachten Sie sich den Arbeiter irgendeiner Branche, sagen wir der Elektrizitätsbranche, der sich gewerkschaftlich organisiert hat, um durch diesen Zusammenschluß bessere Löhne und Arbeitsverhältnisse zu schaffen. Was will er denn mit den besseren Arbeitsverhältnissen? Er will, dass zwischen ihm und dem Arbeitgeber ein anderes Verhältnis in der Entlohnung stattfindet. Das ist alles, was er will. Die Produktionsverhältnisse ändern sich nicht. Alles, was geschieht, ist, dass der Arbeiter höheren Lohn bekommt. [...] Eine Umlagerung des Kapitals ist es.

Damit wird aber gar nichts Besonderes geändert. Dafür, dass man heute mehr Lohn erhält, werden morgen die Lebensmittel teurer. Es ist gar nicht möglich, auf diesem Wege irgendeine Besserung für die Zukunft herbeizuführen." (Steiner, S.20 f.)

Arbeit als Ware – die halbe Freiheit

Steiner zeigt hier den Mechanismus der Lohn-Preis-Spirale auf, der keinen Spielraum für wirklich durchgreifende Veränderungen des Arbeitslebens bietet, solange die Arbeit nur als Ware betrachtet wird. Im weiteren Verlauf des Vortrags weist er dann auf die Notwendigkeit hin, in Zukunft Arbeit und Lohn zu entkoppeln, um den Warencharakter der Arbeit zu überwinden und zu einer vollen Freiheit im Arbeitsleben zu kommen:

"Heute haben wir Arbeiten, die teilweise dem Arbeiter entlohnt werden, teilweise. Dasjenige, was sie erbringt, fließt als Profit in die Tasche des Unternehmers. Teilweise wird also die Arbeit entlohnt. Was ist der Arbeiter dadurch selbst geworden? Seine Arbeitskraft steckt er in die Arbeit hinein. Wenn man in Griechenland ein Stück Arbeit vor sich hatte, dann war sie ein Produkt der Sklaverei. In der Ware von heute steckt ganz etwas anderes darin. Heute ist das Genußmittel , das ich bekomme, kristallisierte Arbeit, die dem Arbeiter entlohnt wird. Wenn wir das so bedenken, dann werden wir finden, dass eine halbe Freiheit an die Stelle der alten Sklaverei getreten ist. Ein Vertragsverhältnis ist an seine Stelle getreten. Daher ist die Arbeit heute halb Zwang, halb Freiheit. Dadurch ist die Arbeit zur Ware geworden in der Gestalt des Arbeiters. [...] Und der Gang der Entwicklung ist in der Richtung zur völlig freien Arbeit hin. Diesen Weg lehnt oder ändert niemand ab. Wie der griechische Arbeiter unter dem Zwang seines Herrn seine Arbeit verrichtete, wie der jetzige Arbeiter aus Zwang für Lohn arbeitet, wird in der Zukunft nur Freiheit der Arbeit sein. Arbeit und Lohn werden in der Zukunft vollständig getrennt." (ebd., S.22)

Ein Loch in der Mitte des Lebens

Der amerikanische Historiker Theodore Roszak widmet in seinem Buch "Person/Planet. The creative disintegration of industrial society " (New York 1978) ein umfangreiches Kapitel der Betrachtung der heutigen Arbeitswelt. Er kommt zu demselben Schluß wie Steiner, dass es der Befreiung der Arbeit bedarf. Seine eigenen Erlebnisse in der Arbeitswelt beschreibt Roszak wie folgt:

"In den Jahren, bevor ich Lehrer und Schriftsteller wurde, habe ich in unsagbar trostlosen und gefährlichen Fabriken gearbeitet. Zum Beispiel in einer Verchromerei, wo ich ständig bis über die Schuhe im Dreck stand und die Dämpfe von brodelnder Säure einatmete. In einer Boilerfabrik erwartete man von mir allen Ernstes, dass ich meine Trommelfelle einer Arbeit am Niethammer aufopferte, die kaum das Lebensminimum abwarf. Der Chef mußte den fast tauben Arbeiter, den ich ersetzen sollte, anschreien, um ihm mitzuteilen, dass ich seine Arbeit übernehmen würde. Ich sagte, ich wollte mehr Geld für so einen Job – und war auch schon gefeuert. Die schiere Grauenhaftigkeit solcher Arbeit liegt auf der Hand; niemand muß erst davon überzeugt werden, dass sie ausbeuterisch und entwürdigend ist." (Roszak, S.193 f.)

Roszak zielt in diesem Kapitel auf die große Problematik, die auch hinter der Tatsache der Arbeitslosigkeit steht: die Entfremdung der Arbeit. Er sieht als Ursache dieser Entfremdung die Unterordnung der Arbeit unter das Geld in der industriellen Revolution – die Arbeit wurde zur Ware. Die heute weit verbreitete Haltung der Arbeitenden gegenüber ihrer eigenen Arbeit charakterisiert er wie folgt:

"Es ist ein Grundzug menschlicher Erfahrung: Ich fühle mich – außer in einem ganz abstrakt juristischen Sinn – nicht für eine Arbeit verantwortlich, die keinen persönlichen Sinn hat; schon gar nicht für eine Arbeit, die ich verachte. Sinnlose Arbeit, verachtenswerte Arbeit, das ist Arbeit, an der andere schuld sind; ich erachte sie als bloße Notwendigkeit, als auferlegte Pflicht. [...]

Arbeit dieser Art ist ein Nichts, ein Loch in der Mitte des Lebens. Sie ist verschwendetes Leben, und nichts macht uns zorniger und rebellischer als die Erfahrung, dass ein kostbares Stück Leben uns einfach abgepreßt , gestohlen und dann für irgendeinen Zweck verbraucht wird." (ebd., S.197)

Arbeit, der höchste Yoga

"In seiner Weisheit machte Buddha den 'rechten Lebenserwerb' zu einem der Schritte zur Erleuchtung. Wenn wir unsere Diskussion nicht so weit vorantreiben, können wir Arbeit nie in ihrer wahren Dimension betrachten und geben uns mit viel zu wenig zufrieden – vielleicht mit nicht mehr als einem Gehalt. Verantwortliche Arbeit ist eine Verkörperung der Liebe, und nur Liebe kann die Persönlichkeit gestalten und den Geist für ein tätiges Leben einigen und festigen. [...] Was soll der höchste Yoga anderes sein als die Arbeit, der wir uns jeden Tag zuwenden?" (ebd., S.198)

Auf diesem Weg des "rechten Lebenserwerbs" hat Verantwortlichkeit für die Ergebnisse der Arbeit eine ungeheure Bedeutung. Wenn es wahr ist, dass wir durch die Arbeit die gesellschaftlichen Verhältnisse für die nächste Generation erzeugen, und warum sollen wir daran zweifeln, dann müssen wir dieser Verantwortung gerecht werden, in deren Zusammenhang die Arbeit des einzelnen zu sehen ist.

Ich weiß nicht, ob deutlich wird, wieviel damit gesagt ist, denn der Hinweis auf diese Verantwortung könnte auch als Banalität aufgefaßt werden. Beobachten wir aber die reale Arbeitswelt, dann wird uns manches auffallen, das dem einzelnen geradezu aufnötigt, sich aus dieser Verantwortlichkeit immer mehr fortzustehlen.

Unanständige Arbeit

Vielen scheint im Hinblick auf die Notwendigkeit des Geldverdienens der Blick für die Sinnlosigkeit mancher Arbeiten verlorengegangen zu sein. Roszak beschreibt solche Arbeit wie folgt:

"Arbeit, die unnötigen Wohlstandsabfall oder Waffen produziert, ist schlecht und sinnlos. Arbeit, die auf eingebildeten oder künstlich erzeugten Bedürfnissen beruht, ist schlecht und sinnlos. Arbeit, die täuscht und manipuliert, die ausbeutet und entwürdigt, ist schlecht und sinnlos. Arbeit, die der Umwelt schadet und die Welt häßlich macht, ist schlecht und sinnlos. Es gibt keine Möglichkeit, solche Arbeit zu rehabilitieren, weder durch Verbesserungen oder Umstrukturierung, noch durch Vergesellschaftung oder Verstaatlichung, noch durch Verkleinerung oder Dezentralisierung oder Demokratisierung." (ebd., S.201)

Die Fragen "Ist es eine anständige Arbeit? Leistet sie wirklich etwas für die Bedürfnisse des Menschen?" läßt Roszak als einziges Kriterium der Bewertung gelten. Und im Hintergrund des Arbeitsprozesses steht nach seiner Auffassung die Verantwortung für die Erde als lebendigem beseelten Organismus.

Die Spiritualität der Arbeit und die Enzyklika " Laborem exercens "

Sucht man nach Anregungen, die einem bei einer vertieften Betrachtung dessen helfen, was man heute unter menschlicher Arbeit versteht, sucht man nach einem spirituell-qualitativen Arbeitsbegriff, so wird man nicht in besonderem Maße fündig werden. Und um die Dritte Enzyklika von Papst Johannes Paul II. wird man dabei nicht herumkommen.

Es ist ganz erstaunlich und in gewisser Weise auch erschütternd, wie hier und auch in den begleitenden Texten eine spirituelle Auffassung der Arbeit gegeben wird. Der vor einigen Jahren verstorbene "Nestor der katholischen Soziallehre", Oswald von Nell-Breuning , betont in seiner Einführung zur Enzyklika besonders, dass nach katholischer Auffassung das Kapital nur "instrumentalen Charakter", die Arbeit jedoch "personalen Charakter" besitze. Die Kirche sei auch "den Versuchen entgegengetreten, auch dem Eigentum einen personalen Charakter zuzuschreiben". ( Nell-Breuning , in: Johannes Paul II., S.8)

Oswald von Nell-Breuning fragt in seiner Einführung, was denn die praktischen Folgen seien, die sich aus dem vom Papst herausgestellten persönlichen Charakter der Arbeit ergeben. Und er kommt zu dem Schluß :

"Für den Raum, den wir 'die Welt der Arbeit' nennen – das ist immer noch die Welt des Lohnarbeitsverhältnisses oder die Welt von 'Kapital und Arbeit' – bedeutet das nicht mehr und nicht weniger als die Umkehr von der bestehenden Herrschaft 'des Kapitals', d.i . derer, die den instrumentalen Kapitaleinsatz leisten, zur Herrschaft 'der' Arbeit, d.i . derer, die den personalen Einsatz der Arbeit leisten." (ebd., S.9 f.)

Selbst der sonst so konservative Kardinal Höffner begrüßte als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz diese "großartige Gesamtschau einer Spiritualität der Arbeit". Er stellt heraus, dass nach der Enzyklika der Mensch sich durch die Arbeit verwirkliche, indem er nicht nur die Dinge und die Gesellschaft umforme, sondern auch sich selbst als Mensch vollende. Und: "Der Papst begnügt sich nicht damit, eine Spiritualität der Arbeit vorzulegen. Er stellt die christliche Botschaft vom Sinn der Arbeit mitten in die Arbeitsverhältnisse unserer Zeit." (Höffner, in: Johannes Paul II., S.12 f.)

Auf einige der zentralen Aussagen der Enzyklika " Laborem exercens ", die nachdenklich machen können, sei nun hingewiesen.

Die Enzyklika stellt fest, " dass die menschliche Arbeit ein Schlüssel und wohl der wesentliche Schlüssel in der gesamten sozialen Frage ist, wenn wir sie wirklich vom Standpunkt des Wohls für den Menschen betrachten wollen". (Johannes Paul II., S.22)

"So wahr es auch ist, dass der Mensch zur Arbeit bestimmt und berufen ist, so ist doch in erster Linie die Arbeit für den Menschen da und nicht der Mensch für die Arbeit. Mit dieser Schlußfolgerung kommt man logisch zur Anerkennung des Vorranges der subjektiven Bedeutung der Arbeit vor der objektiven. [...] [Es geht] uns vor allem darum, deutlich zu machen, dass der Maßstab für jede dieser Arbeiten in erster Linie die Würde ihres Subjekts ist, also der Person, des Menschen, der sie verrichtet". (ebd., S.30)

Betrachtet man allein diesen grundlegenden Gedanken und vergleicht ihn mit der heute gegebenen Realität, auch in den Industrieländern, wird man die enorme Diskrepanz zwischen der heutigen Wirklichkeit und dem Ideal, dass in der Enzyklika dargestellt ist, deutlich erkennen können.

Die Enzyklika betrachtet auch den Aspekt des Warencharakters von Arbeit und äußert sich wie folgt dazu:

"In der Gegenwart, schon seit Beginn des Industriezeitalters, mußte sich die christliche Wahrheit über die Arbeit verschiedenen materialistischen und ökonomischen Strömungen entgegenstellen.

Manche Anhänger solcher Ideen betrachteten und behandelten die Arbeit als eine Art 'Ware', die der Arbeitnehmer, vor allem der Industriearbeiter, dem Arbeitgeber verkauft, der gleichzeitig der Besitzer des Kapitals ist, das heißt der gesamten Arbeitsgeräte und der Mittel, welche die Produktion ermöglichen." (ebd., S.31)

Es wird weiter ausgeführt, dass sich diese Zustände zwar heute gebessert haben, dass die Arbeit aber weiterhin wie eine anonyme, für die Produktion erforderliche Kraft behandelt wird. Zusammenfassend heißt es:

"In allen solchen Fällen, in jeder sozialen Situation dieser Art geschieht eine Verwirrung oder sogar Umkehrung der Ordnung, wie sie von Anfang an mit den Worten des Buches Genesis festgelegt ist: der Mensch wird als bloßes Werkzeug behandelt, während er – um seiner selbst willen, unabhängig von der Arbeit, die er tut – als deren verursachendes Subjekt, als deren wahrer Gestalter und Schöpfer behandelt werden sollte." (ebd., S.32)

Die Enzyklika stellt fest, dass das Prinzip des Primats der Arbeit vor dem Kapital eine Forderung sozialethischer Natur sei, und zwar einer Arbeit, die die Würde des Menschen unangetastet lasse und ihm die Möglichkeit gebe, durch seine Arbeit das Werk Christi fortzusetzen und somit die Verantwortung für sich und die Welt, an der er durch seine Arbeit schafft, zu übernehmen.

Geisteswissenschaftliche Auffassungen tieferer Aspekte der Arbeit bzw. des Sinns von Arbeit sollten hinter diesen Anschauungen nicht zurückbleiben.

Arbeitslosigkeit

Mit Beginn der 60er Jahre erschien als Zukunftsperspektive die Möglichkeit, dass die abhängige Lohnarbeit immer mehr zurückgedrängt werden könnte. Es war sogar von der 20-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich die Rede. Viele Psychologen beschäftigten sich schon besorgt mit der Frage, wie denn die Menschen die anfallende Freizeit sinnvoll nutzen könnten. Von der immer weiter zunehmenden Technisierung, von der Ausbreitung der Computer-Technologie versprach man sich erhebliche Einsparungen im Hinblick auf die Arbeitszeit.

Die Situation hat sich aber seit den 80er Jahren entscheidend verändert. Als Zukunftsperspektive gilt heute die 20:80-Gesellschaft und weltweit horrend ansteigende Arbeitslosenzahlen in den nächsten Jahrzehnten. Hier stellt sich nun die Frage, was man denn mit denjenigen zu tun gedenke, die keine Arbeit finden können. Die Sorge ist groß, dass es zu Aufständen kommen könnte und die Frage in der Zukunft möglicherweise nicht von Psychologen, sondern von Militär und Polizei beantwortet werden wird.

In der Sozialökonomie herrscht bis heute das Denken vor, dass die Menschen durch die Verhältnisse bestimmt werden, der Mensch im Grunde ein Spielball der Verhältnisse ist. Doch selbst die Tatsache, dass die sozialen Verhältnisse vielfach so sind, dass der einzelne nur geringe Chancen hat, sich aus diesen zu befreien, heißt nicht, dass es grundsätzlich so sein muß. Geschichte ist machbar. Das versuchte beispielsweise Rudi Dutschke vor 30 Jahren deutlich zu machen. Und diese Anschauung vertreten auch Theodore Roszak und Rudolf Steiner.

Im Jahre 1921 verfaßte Steiner einen Aufsatz über Arbeitslosigkeit, der in der Zeitschrift Das Goetheanum veröffentlicht wurde. Er weist hier u.a. darauf hin, dass der einzelne im sozialen Zusammenhang seine Aufgabe habe, also Arbeit für jeden Menschen vorhanden sei. Arbeitslosigkeit sei der Ausdruck einer Erkrankung der sozialen Verhältnisse:

"Arbeitslosigkeit! Menschen können nicht Arbeit finden! Sie muß aber doch da sein. Denn die Menschen sind da. Und es kann im gesunden sozialen Organismus die Arbeit, die nicht getan werden kann, nicht eine überflüssige sein, sondern sie muß irgendwo fehlen . Soviel Arbeitslosigkeit, soviel Mangel." (GA 36/1981/S.33)

Das bedeutet, dass Steiner in der Arbeitsfähigkeit des Menschen einen Sinn sieht, der notwendig zu seinem Leben gehört. Durch die Arbeit gestaltet der Mensch die Weltverhältnisse mit. Durch seine Arbeitskraft hat er die Möglichkeit, sich an dem sozialen Miteinander zu beteiligen.

Im Grunde gehört es zur Verwirklichung der Menschenwürde, Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Vollbeschäftigung wird es in der Bundesrepublik voraussichtlich nicht mehr geben. Aber selbst wenn die Vollbeschäftigung erreicht wäre, müßte eine nächste Frage gestellt werden: die Frage nach der Qualität der Arbeit. Denn man halte sich einmal vor Augen, wie entsetzlich wenig sonst für diejenigen Menschen erreicht wäre, deren Arbeit nur Schinderei und Entwürdigung beinhaltet.

Arbeit als Berufung

Daher müßte in Zukunft auch immer mehr der Schritt von der Lohnarbeit zu einer Arbeit vollzogen werden, die dem einzelnen nicht nur Job, sondern Berufung ist. Arbeit ist letztendlich als Berufung aufzufassen, auch wenn wir bei den heutigen Verhältnissen weit davon entfernt sind und es auch sicher illusionär wäre zu glauben, es könne in allernächster Zeit in dieser Richtung viel getan werden. – Dennoch ist deutlich: Unsere Gesellschaft braucht einen neuen Impuls gerade für die Arbeitswelt.

Die Kräfte, die aus diesem Impuls wachsen können, werden nur dann frei werden, wenn wir Menschen nicht mehr als anonyme Teile von Produktionsabläufen oder als bloße Nummern der Arbeitslosenstatistiken betrachten. Wer kann sich unter der Anzahl von derzeit etwa vier Millionen Arbeitslosen in der Bundesrepublik wirklich etwas Konkretes vorstellen? Die Menschen müssen Arbeit finden. Sie müssen aber auch einen äußeren und inneren Sinn in ihrer Arbeit erkennen können. Diese Notwendigkeit faßt Theodore Roszak in folgender Überlegung zusammen:

"Jeder von uns hat eine ganz eigene Begabung, eine Berufung, die auszuüben höchstes Vergnügen ist, selbst wenn wir schwitzen und leiden müssen, um ihr gerecht zu werden. Diese Berufung wünscht sich einen realen und nützlichen Platz in der Welt, eine Aufgabe, die nicht Vergeudung oder bloßer Schein ist. Könnte dieser Leben spendende Impuls freigesetzt und als Energie unserer täglichen Arbeit nutzbar gemacht werden, hätten wir die Chance, mit der ganzen Kraft unserer Persönlichkeit – Geist und Körper, Herz und Seele – in unserer Arbeit zu sein ... welche gewaltigen Kräfte würden dann freiwerden! Sie könnten mehr erreichen und verändern als die ganze Macht industrieller Technologie." (Roszak, S.199)

Dem Arbeitsleben den Geist echter Berufung zurückzugeben – so Roszak –, wird die Aufgabe jeder sozialen Reform in der Zukunft sein müssen.

Rudolf Steiner über die Entfremdung der Arbeit

Wenn wir nun dem Beruf den Geist echter Berufung zurückgeben möchten, so kann das nicht in einer rückwärts orientierten Haltung geschehen, die sich nach vergangenen Zuständen sehnt. Die Berufe spezialisieren sich immer mehr. Wenn darauf hingewiesen wird, dass Geschichte machbar ist, dann muß ebenfalls festgestellt werden, dass sich auch objektive Entwicklungen vollziehen, die unabhängig von unseren Wünschen und Neigungen als Notwendigkeiten eintreten. Eine solche Entwicklung beschreibt Rudolf Steiner wie folgt:

"Es wird immer mehr Spezialisierung, Differenzierung des Berufslebens eintreten müssen. Es ist gar nicht besonders gescheit, wenn man dies kritisiert, weil es eine Notwendigkeit der Evolution ist, weil es einfach geschehen wird und immer mehr und mehr geschehen wird." (GA 172/1980/12.11.1916/S.84)

Anschließend heißt es:

"Ja, im Grunde genommen eröffnet sich die Aussicht, dass die Menschen dann, wie man sich einbilden möchte, immer mehr und mehr das Interesse gerade für dasjenige verlieren müßten , was den größten Teil ihres Lebens ausfüllt, dass sie also gewissermaßen mechanisch hingegeben sein müßten an ihre Arbeit in der Außenwelt. Das aber wäre noch nicht einmal das Wesentlichste. [...] Das Wesentlichste ist, dass in das menschliche Innere herein seine äußere Arbeit selbstverständlich abfärben muß." (ebd./S.84)

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich das Arbeitsleben zunehmend so entwickelt, dass immer weniger Menschen in ihrer Berufstätigkeit etwas sie auch innerlich Befriedigendes besitzen. Neben die Probleme dieser Entfremdung stellt Rudolf Steiner nun folgenden Zukunftsaspekt: Durch die immer mehr sich vom Menschen ablösende Berufsarbeit, durch die bedrückenden Erlebnisse des Lebens wird der Mensch lernen, die Arbeit in einen kosmischen Zusammenhang hineinzustellen:

"In dem Berufsleben ist eine Notwendigkeit gegeben, Verhältnisse zu entwickeln, welche kosmische Bedeutung haben, gerade dadurch, dass sich das Berufsleben in einer gewissen Weise von dem menschlichen Interesse loslöst." (ebd./S.87)

Das heißt nun allerdings nicht, dass man das Lösen dieses Interesses fördern sollte, also möglichst schlechte Arbeitszustände herbeiführt, damit der Mensch diese Objektivität des Berufslebens, diese Selbstlosigkeit intensiver lernt. Es müssen verschiedene andere Entwicklungen eingeleitet werden, die auch die Verantwortlichkeit der Menschen in der Arbeitswelt möglich machen. Denn von der Entwicklung dieser Verantwortung, insbesondere für die realen geistigen Tatsachen und Prozesse, die mit jeder Arbeit verbunden sind, hängt viel ab:

"Das muß sein, dass wir in der vom Menschen losgelösten Berufsarbeit die ersten kosmischen Anlagen für eine weitgehende Weltenentwickelung schaffen. Denn alles, was geschieht in der Weltenentwickelung, steht mit Geistigem in Beziehung." (ebd.)

Der arbeitende Mensch wird in der Zukunft erkennen können, dass in seinem Arbeitsprozeß Elementargeister entstehen, die entweder der Weltentwicklung förderlich oder hinderlich sind. Es wird sich so eine neue Technik entwickeln, die nun wiederum viel stärker mit den Fähigkeiten des Menschen verbunden sein wird. Steiner verweist in diesem Zusammenhang auf Maschinen, die nur von bestimmten Menschen zu bedienen sein werden. (ebd./S.93 f.)

Für die Beziehungen der Menschen untereinander birgt die Entwicklung zu einer immer weiteren Spezialisierung und Mechanisierung der Arbeitswelt Gefahren in sich, wenn sie nicht von einer geistigen Entwicklung der Menschen begleitet wird. Der rein äußerliche Fortschritt der Menschheit könnte dazu führen, dass die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens zusammenbrechen, weil "die Menschen sich immer weniger und weniger verstehen würden, immer weniger und weniger Beziehungen entsprechend den Voraussetzungen der Menschennatur entwickeln könnten. Die Menschen würden immer mehr und mehr aneinander vorbeigehen, könnten nichts anderes mehr suchen als ihre Vorteile, könnten in keine anderen Beziehungen zueinander kommen als in die Beziehung der Konkurrenz. Das darf nicht der Fall sein, weil sonst das Menschengeschlecht in die vollständige Dekadenz verfallen würde." (ebd./S.93 f.)

Damit das nicht geschieht, wird es notwendig sein, dass es immer mehr Menschen gibt, die nicht mehr wie bisher durch die Berufsarbeit verbunden sind, sondern die sich durch Interessen zusammenfinden, die über ihre Berufsarbeit hinausgehen. Letztlich kommt es darauf an, geistige Erkenntnisse zu erarbeiten, die die Menschen verbinden und die "alle Berufsarbeit zu gleicher Zeit beleuchten und durchdringen". (ebd.) Aus diesem Grunde fordert Rudolf Steiner, dass die Menschen als Gegenpol zur Entwicklung der Arbeitswelt geistige Interessen und das Interesse am anderen Menschen ausbilden müssen:

"Daher muß, durch die Weltenevolution auf Erden selber gefordert, die Einsicht in die menschlichen Herzen kommen, dass in demselben Maße, als die Berufe die Menschen vermechanisieren, nach und nach immer mehr gerade für die sich spezialisierenden und mechanisierenden Menschen der Gegenpol immer intensiver und intensiver tätig werde, der darinnen besteht, dass der Mensch seine Seele anfülle mit demjenigen, was ihn nahebringt jeder anderen Menschenseele, gleichgültig, wie sie sich spezialisiert hat." (ebd./S.95)

Die Dreigliederung des sozialen Organismus – ein Hinweis

Um auf die hier besprochenen Entwicklungsprozesse wirksam zu reagieren, entwickelte Rudolf Steiner zu Beginn unseres Jahrhunderts die Anschauung von der Dreigliederung des sozialen Organismus. In seinem "Nationalökonomischen Kurs" (GA 340) und besonders in "Die Kernpunkte der sozialen Frage" (GA 23) hat er die Grundzüge der Dreigliederung dargestellt. Die Freie Waldorfschule ist aus dieser Anschauung hervorgegangen. Aber die damals aktive Dreigliederungsbewegung besteht heute nicht mehr. Die anthroposophischen Institutionen haben, auch in den letzten Jahrzehnten, von Ausnahmen abgesehen, wenig Neigung gezeigt, sich mit der Dreigliederung bis in die Gestaltung der eigenen Lebens- und Arbeitsverhältnisse auseinanderzusetzen. Manche der Probleme, die diese Institutionen heute haben, resultieren aus dieser mangelnden Auseinandersetzung. So ist z.B. die Lohnfrage auch an den Waldorfschulen weitgehend im klassischen Sinn geregelt – eigentlich eine Blamage.

Die Dreigliederung, die keine Theorie sein will, sondern eine Beschreibung der heute eigentlich notwendigen Verhältnisse, bringt eine völlig neue Anschauung der Begriffe Arbeit, Kapital und Ware. Sie will die drei gesellschaftlichen Glieder Geistesleben, Rechts- bzw. Staatsleben und Wirtschaftsleben in ein gesundes Verhältnis setzen. Und Rudolf Steiner hat im Zusammenhang der sozialen Dreigliederung immer wieder die Trennung von Arbeit und Einkommen als einen notwendigen Schritt bezeichnet.

Es wäre auch weiterhin notwendig, gerade vor dem Hintergrund der angedeuteten gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklungen im Arbeitsleben, die Dreigliederung des sozialen Organismus zum Tragen zu bringen.

Arbeitslosigkeit ist sinnlos

Die Ursachen und auch die Sinnlosigkeit von Arbeitslosigkeit sind einmal von Joachim Hensch in fünf Thesen zusammengefaßt worden:

"1. Die Arbeitslosigkeit ist kein zwangsläufiges Naturereignis, sondern von der Gesellschaft und der Politik verursacht. Deshalb kann sie auch durch ein entsprechendes Umdenken sowie durch Eingreifen der sachlich richtigen Maßnahmen beseitigt werden.

2. Arbeitslosigkeit ist eine Verletzung der individuellen Menschenwürde.

3. Arbeitslosigkeit ist eine Verletzung der Menschenrechte, weil sie von Menschen anderen Menschen zugefügt ist.

4. Arbeitslosigkeit zerstört die Gesellschaft, weil sich durch arbeitsteiliges Wirtschaften Gesellschaft erst konstituiert.

5. Arbeitslosigkeit ist wirtschaftlich sinnlos, weil sie ungeheure Folgekosten verursacht und auf die Produktivkraft dieser Menschen verzichtet." ( Hensch , S.47)

Fazit

Vollbeschäftigung ist eine gesellschaftliche Forderung unserer Zeit. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es in den nächsten Jahren einer enormen Anstrengung, aber auch eine Erweiterung des Begriffs "Arbeit". Der eingeschränkte Begriff "Lohnarbeit" reicht bei weitem nicht mehr aus. Derzeit sind in Deutschland beipielsweise nicht einmal mehr 40% der geleisteten Arbeit Lohnarbeit. Nur wenn die Sicherung zumindest der physischen Existent nicht allein von der ausgehenden Kohnarbeit abhängt, wird Vollbeschäftigung zu erreichen sein. Der Begriff der Existenzsicherung muss allerdings den Menschen als Kulturwesen betrachten, dessen eigentliche Existenz über die rein physische hinausgeht. In Wahrheit haben viel mehr Menschen Arbeit als diejenigen, die in lohnabhängiger Arbeit stehen. Die Arbeitslosenzahlen müssen aber aucf der anderen Seite die ZeitarbeiterInnen, die 1-Euro.Jobberinnen und diejenigen, die aus den Hartz-Statistiken unten rausfallen, mit berücksichtigen. Dann wären wir derzeit (Oktober 2008) bei einer Zahl an Arbeitslosen von 9,3 Millionen in der Bundesrepublik.

Die Überwindung der Entfremdung der Arbeit, nicht in rückwärtsgewandter Nostalgie, sondern aus den objektiven Gegebenheiten der evolutionären Bedingungen des Menschen und der gesellschaftlichen Verhältnisse, muß aber ebenso als Notwendigkeit erkannt werden. Die Tatsache, dass der Mensch ein sich entwickelndes geistiges Wesen ist, muß auch in der gesellschaftlichen Entwicklung ihren Niederschlag finden.

Literatur:

Hensch , Joachim: Thesen zur Arbeitslosigkeit. In: Beiträge zur Dreigliederung, Anthroposophie und Kunst,    Nr.42. Rendsburg 1994.

Johannes Paul II.: Laborem exercens . Über die menschliche Arbeit. Dritte Enzyklika . Aschaffenburg 1981.

Roszak, Theodore: Person/Planet. The creative disintegration of industrial society. New York 1978. Zit. nach der deutschen Ausgabe: Mensch und Erde auf dem Weg zur Einheit. Soyen 1982.

Steiner, Rudolf: Vortrag vom 26.10.1905. In: Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Nr.88. Dornach 1985.

Vorstehender Artikel ist erschienen in: Flensburger Hefte Nr. 62: Arbeitslosigkeit. Flensburg 1998.

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