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Was heute nottut

Ein Aufsatz Rudolf Steiners und seine Aktualität

Immer wieder in Krisenzeiten (alle wissen, was ich meine) taucht in Gesprächen das Stichwort „Soziale Dreigliederung“ auf. Auch jetzt. Es wird darauf erwidert, die von Rudolf Steiner entworfene soziale Dreigliederung sei doch schon fast 100 Jahre alt und längst nicht mehr aktuell.

Das kann man eigentlich ja nur beurteilen, wenn man weiß, worüber man spricht.

Die andere Erwiderung, die mir begegnet ist, für so was habe man jetzt, in der Krise, keine Zeit. Doch wann hatte Rudolf Steiner seine soziale Dreigliederung entwickelt? Wesentlich im Jahre 1919, in der Zeit einer ausgeprochen großen Krise. Und er erhoffte sich die Lösung dieser Krise eben durch die Dreigliederung des sozialen Organismus.

Weiter ist zu bedenken, dass die Waldorfpädagogik nicht mehr und nicht weniger ist als ein Ableger der Bewegung für soziale Dreigliederung. Und da trifft das Argument, die Waldorfpädagogik (resp. Dreigliederung) sei veraltet, doch auch nicht, denn dann könnten wir ja unsere Schule schließen oder zumindest den Namen sollten wir dann ändern.

Wir sehen derzeit im öffentlichen Leben ebenfalls eine große Krise. In der Renten- und Krankenversicherung wird das nur besonders deutlich. Und es wird noch deutlicher werden. Vor unseren Augen bricht das Zeitalter der entlohnten Arbeit zusammen.

Rudolf Steiner erhoffte anlässlich verschiedener Besprechungen des Buches von Oswald Spengler „Der Untergang des Abendlandes“, dass aus der Geisteswissenschaft die aufsteigenden Kräfte kommen würden, die den von Spengler ganz richtig beschriebenen Untergangskräften etwas Wirkungsvolles entgegengestellt werden könnten. Falls das nicht gelänge, würde das Abendland am Ende des 20. Jahrhunderts in der Barbarei versinken. Aber diese Kräfte wurden an ihrer Entfaltung gehindert „durch das Misstrauen gegenüber dem Geist“.

Die Waldorfschule hat sich in ihrer Sozialgestalt vorwiegend an die alten Kräfte angeschlossen. Ist noch Zeit, das Blatt zu wenden?

Um ein Urteil zu finden bezüglich der Aktualität der sozialen Dreigliederung soll der nachstehende Text Rudolf Steiners hier abgedruckt sein.

Der Text ist an sich schon interessant. Ersetzt man das Wort „Staat“ durch das Wort „Institution“ (in ihrer Beziehung zu jedem einzelnen Menschen, der mit ihr verbunden ist), wird der Text noch auf ganz andere Weise interessant für diejenigen, die in irgendeiner Einrichtung arbeiten.

Aus der Dreigliederungsidee heraus hat sich nicht nur die Waldorfschule gebildet. Es haben sich auch konkrete Ideen zu neuen sozialen Gestaltungen unserer Einrichtungen entwickelt. Die Frage ist nun: wollen wir uns weiter auf die untergehenden Kulturkräfte beziehen, und das kann man auch dann tun, wenn man diese bekämpft, aber selbst nichts diesbezüglich Neues entwickelt, oder wollen wir diese Neue entwickeln? Falls nicht, so Rudolf Steiner an anderer Stelle, wird Darwin nachträglich Recht bekommen: aus dem „Kampf ums Dasein“, aus dem Egoismus heraus wird sich nach und nach ein „Krieg aller gegen alle“ entwickeln. Welche Zukunft bereiten wir für die nächsten Generationen, für unsere Kinder und die Kinder unserer Kinder vor? Wohin werden wir gehen?

Arfst Wagner

 

Was nottut

von

Rudolf Steiner

Man wird den Wirklichkeitssinn, der in der Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus lebt, nicht finden, wenn man diese mit den Gedanken vergleicht, die man sich über das praktisch Mögliche aus den Überlieferungen heraus angeeignet hat, in welche man durch Erziehung und Lebensgewohnheiten hineingewachsen ist. Dass diese Überlieferungen zu Denk- und Empfindungsgewohnheiten geführt haben, über welche das Leben hinausgewachsen ist, dies ist so gerade der Grund unserer gesellschaftlichen und staatlichen Wirrnis. Wer daher sagt: die Dreigliederung berücksichtige nicht, aus welchen Antrieben bisher die menschlichen Einrichtungen erwachsen sind, der lebt in dem Wahn, die Überwindung dieser Antriebe sei eine Sünde wieder jeder möglichen Gesellschaftsordnung. Die Idee von der Dreigliederung ist aber auf der Erkenntnis aufgebaut, dass der Glaube an die weitere Tragkraft dieser Antriebe das stärkste Hemmnis bildet für einen gesunden, mit der gegenwärtigen Entwicklungsstufe der Menschheit rechnenden Fortschrittsimpuls.

Dass die alten Antriebe nicht weiter fortgepflegt werden können, das sollte man aus der Tatsache erkennen, dass sie ihre Stoßkraft für das produktive Arbeiten der Menschen verloren haben. Die alten wirtschaftlichen Antriebe der Kapitalrentabilität und des Lohnerträgnisses konnten ihre Stoßkraft nur so lange behaupten, als von den alten Lebensgütern noch genügend übrig geblieben war von dem, für das der Mensch Neigung und Liebe entwickeln konnte. Diese Lebensgüter zeigten sich deutlich in dem abgelaufenen Zeitalter erschöpft. Und immer zahlreicher wurden die Menschen, die als Kapitalisten nicht mehr wussten, wofür sie Kapital anhäufen sollten; immer zahlreicher auch wurden die Menschen, die, im Lohnverhältnis stehend, nicht wussten, wofür sie arbeiteten.

Die Erschöpfung der im Staatsgetriebe wirkenden Antriebe zeigte sich darin, dass es in der neuesten Zeit für viele Menschen fast zu einer Selbstverständlichkeit wurde, den Staat für einen Selbstzweck anzusehen und zu vergessen, dass der Staat um der Menschen wegen da ist. Man kann den Staat nur als einen Selbstzweck ansehen, wenn man die innere individuelle Selbstbehauptung des Menschenwesens so weit verloren hat, dass man für diese Selbstbehauptung und aus ihr heraus nicht die entsprechenden Staatseinrichtungen fordert. Dann muss man nämlich in allerlei Einrichtungen des Staates dessen Wesen suchen, die seiner eigentlichen Aufgabe zuwiderlaufen. Man wird erfüllt werden, mehr in die Einrichtungen des Staates hineinzulegen, als für die Selbstbehauptung der in ihm vereinigten Menschen notwendig ist. Jedes solche Mehr des Staates ist aber ein Zeugnis für ein Weniger der den Staat tragenden Menschen.

Im geistigen Leben offenbart sich die Unfruchtbarkeit der alten Antriebe in dem Misstrauen, das man dem Geiste überhaupt entgegenbringt. Was aus den ungeistigen Lebensverhältnissen erwächst, dafür hat man Interesse; darüber bildet man sich Anschauungen und Gedanken. Was aus geistiger Produktion stammt, das betrachtet man am Liebsten als persönliche Angelegenheit des produzierenden Menschen.. Man behindert es eher, als dass man es fördert, wenn es in das öffentliche Leben aufgenommen werden will. Es gehört zu den verbreitetsten Eigentümlichkeiten unserer zeitgenössischen Menschen, dass ihnen ein offener Sinn für individuelle Geistesleistungen ihrer Mitmenschen fehlt.

Die Gegenwart bedarf des Hinschauens diese ihre Abgebrauchtheit in Bezug auf die wirtschaftlichen, die geistigen Antriebe. Aus diesem Hinschauen muss sich ein energisches Wollen entzünden. Ehe man nicht erkennt, dass in unserer wirtschaftlichen, staatlichen, geistigen Not nicht bloß äußere Lebensverhältnisse wirksam sind, sondern die Seelenverfassung des neueren Menschen, ist die Grundlage zu dem notwendigen Neubau noch nicht gegeben.

Es ist ein Zwiespalt in die Seelenverfassung des Menschen eingetreten. In den instinktiven, unbewussten Regungen der Menschennatur rumort ein Neues. In dem bewussten Denken wollen die alten Ideen den instinktiven Regungen nicht folgen. Wenn aber die besten instinktiven Regungen nicht von Gedanken erleuchtet sind, die ihnen entsprechen, dann werden sie barbarisch, animalisch. In eine gefährliche Lage treibt die Menschheit der Gegenwart hinein durch die Animalisierung ihrer Instinkte. Rettung ist nur zu finden durch Erstreben neuer Gedanken für eine neue Weltlage.

Ein Ruf nach Sozialisierung, der dieses nicht berücksichtigt, kann zu nichts Heilsamen führen. Die Scheu, den Menschen als seelisches, als geistiges Wesen zu betrachten, muss überwunden werden. Einseitige Umwandlungen des Wirtschaftslebens, einseitige Neugestaltung der staatlichen Struktur ohne die Pflege einer sozial gesunden und fruchtbaren Seelenverfassung ist geeignet, die Menschheit in Illusionen zu wiegen, statt sie mit Wirklichkeitssinn zu durchdringen. Und weil nur wenige sich entschließen können, die Lebensfrage der Gegenwart und der nächsten Zukunft in dem umfassenden Sinne einer Frage der äußeren Einrichtung und der inneren Erneuerung zu sehen, darum kommen wir auf dem Wege zur sozialen Neugestaltung so langsam vorwärts. Wenn viele sagen: die innere Erneuerung erfordere eine lange Zeit, man dürfe sie nicht überstürzen, so lauert hinter solchem Reden eben die Scheu vor dieser Erneuerung Denn die rechte Stimmung kann nur die sein, alles tatkräftig ins Auge zu fassen, was zur Erneuerung führen kann, und dann zuzusehen, wie langsam oder wie schnell die Lebensfahrt vorwärts kommen wird.

Die Ereignisse der letzten Jahre haben eine gewisse Ermüdung über die Seelenverfassungen der Zeitgenossen ausgegossen. Um der kommenden Generationen willen, um der Kultur der nächsten Zukunft willen, muss diese Ermüdung bekämpft werden. Aus solchen Empfindungen heraus ist die Idee der Dreigliederung an die Öffentlichkeit getreten. Sie mag vielleicht unvollkommen, sie mag ganz schief sein; ihre Träger werden verstehen, wenn man sie vom Gesichtspunkte anderer neuer Ideen bekämpft. Dass man sie so oft „unverständlich“ findet, weil sie dem gewohnten Alten widerspricht, das können sie aber nicht als ein Zeichen betrachten, dass bei solchen Bekämpfern der Ruf gehört wird, der aus der Entwicklung der Menschheit für unsere Zeit sich doch, wie man glauben sollte, deutlich genug vernehmen lässt.

(Aus: Dreigliederung des sozialen Organismus. Nr. 7. Stuttgart 1919).