55 Jahre lang nach Woodstock


- eine Hommage an Al „Blind Owl“ Wilson und eine Betrachtung der Zeit –

von Arfst Wagner

Dies sind Reflexionen eines Jung-Achtundsechzigers. Er war 1968 vierzehn Jahre alt. Abseits und mittendrin zugleich.
Ich kann sie nicht mehr hören, die Diskussion, ob die 68er-Bewegung gescheitert ist oder nicht. Wie können gescheiterte Existenzen darüber diskutieren? Wie kann man darüber streiten, ob etwas gescheitert ist, was es im tiefsten Kern nie gegeben hat? Oder das so vielschichtig war, dass jede Ebene einzeln betrachtet werden muss? Was nur wie ein Hauch, ein luziferisches Versprechen einer besseren Welt war. Ein Leben im Atem dessen, was die beiden wichtigsten Ideale, die es in der Menschheit, für die Menschheit gegeben hat, ausströmten: die Liebe und die Freiheit. Oder gar eine Kraft, die auf ganz anderen Ebenen zu finden war und die sich gar nicht vollständig auf dieser Welt inkarniert hat, was zu beweisen wäre. Scheitern kann das alles nicht. Scheitern kann nur immer wieder das, was eben dieses verhindert hat. Wenn jemand einem Durstenden ein Glas Wasser reichen will, und der Durstende es ihm immer wieder aus der Hand schlägt, wer scheitert dann?
Das, was die Ideale, die die jungen Menschen, die uns damals erfüllten, bekämpft und korrumpiert hat, das eine von Innen, das andere von Außen, und nur das kann und wird scheitern. Und wenn ich das schreibe, dann heißt das nicht, dass Liebe und Freiheit seinerzeit in besonderem Maße verwirklicht waren. Das waren sie selbstverständlich nicht.
Nur gescheiterte Existenzen diskutieren diese Frage nach dem Scheitern, denn natürlich ist die Zeit seit 1968 gescheitert. Anhänger und Gegner. Die andere Diskussion ist die, ob die 68er-Bewegung nicht sogar Schuld ist am Verfall der Bildung und die eigentliche Ursache der weltweiten Gewalt. Antiautoritäre Erziehung? Hat es an den deutschen Schulen nie gegeben. Ja, ich habe sogar im Ohr, der Pazifismus sei schuld am Dritten Reich. Aber derart weit müssen wir nicht gehen. Wir müssen gar nicht weit gehen, wir fangen bei uns selber an und hören auch bei uns selber wieder auf. Garantiert.

 

1.
Al Wilson zählt nur zur zweiten Reihe des Club 27, die erste Reihe bleibt anderen vorbehalten. Ob das nun ist, weil Al „Blind Owl“ nicht so bekannt war, oder ist er nicht so bekannt, weil er nur zur zweiten Reihe gehört? Keine Ahnung. Immerhin hat er so begnadete schwarzen Bluesern wie Son House daran erinnert, was sie in den 40ern gespielt haben. Und was wäre John Lee Hooker ohne Al „Blind Owl“ Wilson. Al war extrem kurzsichtig und dennoch sah er so vieles, was ihn depressiv machte. Er war einer der ersten militanten Umweltschützer in den USA, er lernte die Namen der Tier- und Pflanzenarten um ihn herum auswendig. Und er fuhr seinen Van einfach von der Straße. Das tötete ihn allerdings noch nicht. Erst eine Überdosis Barbiturate gemischt mit Wodka ließ ihn nachts auf einem Hügel hinter dem Haus seiner besten Freundes Bob Hite lächelnd in eine andere Welt wandern. Eine Welt, von der er nicht wusste, wie sie aussah, ein Leben nach dem Tod auf irgendeine Weise. Viele hatten seine Depressionen gar nicht bemerkt. Dabei hatte er schon auf dem Woodstock-Konzert den Text von „Going up the Country“ verändert: “I am tired of the way, I feel dark around, I am going to Rome (?) to find me a brandnew home.“ Beim letzten Refrain ließ es das letzte Wort “Home” gar noch weg und spielte dafür einen Akkord auf seiner Gitarre.
Was Al sah war die Begeisterung in Woodstock. Und er sang seinen Abschied in die begeisterte Menge hinein. Das dürfte der einsamste Augenblick in seinem von Einsamkeit durchtränkten Leben gewesen sein.
Für mich war dies  ein ganz besonderer Moment, nämlich der, in dem mir die Gespaltenheit der „Woodstock-Generation“ zum ersten Mal ins Herz fuhr. „Canned Heat“ – vielleicht darf ich das mal so frei übersetzen, wie ich das empfunden habe: eingesperrte Hitze, konservierte Inspiration. Sehnsucht, die ihren Weg nicht findet. Wühlende Trauer, Betäubung, Alkohol, Drogen. Wut. Notfalls auf sich selbst und gegen sich selbst gerichtet. Das Gefühl: „Stone Free“.

 

2.
Bob „The Bear“ Hite setzte sich einfach unmittelbar nach einem Konzert in Kalifornien im Jahr 1981 einen goldenen Schuss noch auf der Bühne mit den Worten: „Der macht mich nicht mal high“. Stimmt. Zehn Minuten später, so der Drummer Parra, war er tot. Er fühlte sich bereits längst nicht mehr akzeptiert, war unglücklich und fühlte sich einsam. Sein bester Freund Al war 12 Jahre vor ihm freiwillig aus dem Leben geschieden. Und wer nach dem Tod von Al ein Konzert von Canned Heat anschaute, der „sah“, dass die „blinde Eule“ immer dabei war, wo Bob Hite performte. Und nach dem Tod von Bob war Canned Heat nicht mehr Canned Heat. Ganz einfach. Es war nicht so, dass Bob und Al nun unsichtbar dabei waren, sondern beide waren echt ganz weg. Nicht da. Überhaupt nicht da. Etwas war völlig weg.  Neben Al und Bob war es das, für was sie gestanden haben. Was war das?

 

3.
Im August 1969 saß ich am Strand einer Insel in Nordfriesland auf einer schrägen Wiese mit zahlreichen Freundinnen und Freunden. Da waren Hannes und Jan-Dirk, Püffi und Harro, Christine und Alice, Uli und Cornelia, Wolfgang. Und die anderen. Und wir wussten, was sich in den Tagen zwischen dem 14. und 17. August einige tausend Kilometer entfernt abspielte. Wir besaßen Gitarren (natürlich), Bongos, Flöten und ich sogar eine Violine. Mit dieser wurde versucht, „Going up the Country“ zu  veredeln. Und wir fühlten uns mittendrin, zu jung, um selber hinzufahren, aber im Herzen und im Handeln dabei. Siem-Peter hatte sich da schon verabschiedet, mit dem Motorrad gegen den Baum und von dort Einbahnstraße in den Himmel. Dass uns Strandwärter wegjagten, muss eigentlich nicht extra erwähnt werden. Jahre darauf wurde die schräge Wiese mit Rabatten bepflanzt, jetzt ist sie betoniert. Seither sitzt da niemand mehr. Gelegentlich stehe ich heute ein paar Meter oberhalb dieser Schräge und denke daran, was sich seither getan hat. Damals meinte ich, die Welt könne doch nur besser werden, weil jeder Mensch an jedem Tag dazulernt. Es sei daher unlogisch, dass die Welt schlechter werden würde, dass die Menschen schlechter werden könnten. Seltsam, meine Band damals trug den Namen „The Same Thing“, was sehr frei übersetzt heißen kann: immer dasselbe.

 

4.
Die erste Reihe des Club 27 kommt mir heute vor wie eine Schicksalsgemeinschaft. Sie mussten ihren Weg so gehen und mit 27 sterben. Brian Jones, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison. Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass sich um das 27. Lebensjahr entscheidet, ob es der eigenen Persönlichkeit gelingt, an die Welt, in die man hineingeboren wurde, anzuknüpfen. Mit 27 sind die meisten verheiratet, haben Kinder, einen Beruf, eine politische Orientierung, ein Bankkonto, eine Automarke, einen Lieblingssport und was weiß ich noch alles. Und von da an wird gealtert. Ob man es will oder nicht. Körper und Seele parallel. Man nennt das: vernünftig werden. Jimi und Jim, Janis und Brian war das vorbestimmt. Sie waren derart extrem, dass sie von Anfang an keine Chance hatten. Komplett authentisch. Alle vier kann ich mir vorstellen, wie sie gewesen wären, wenn sie 64 geworden wären: alles unverändert, nur ein paar Falten. Sie würden immer noch saufen, Drogen nehmen, jede Menge Sex haben. Ihr Schicksal war durch ihre eigene Seele vorbestimmt, sie SOLLTEN Helden werden und wurden es auch. Sie waren es zu Lebzeiten und sie sind es im Tod. Jedenfalls für uns.
Und was wären wir ohne sie? Genau das, was wir heute sind, denn Jim Morrison hat uns darin bestätigt, uns unverstanden zu fühlen, Jimi Hendrix hat uns Staunen gemacht und uns in unserem höheren Wesen bestätigt. Janis Joplin ließ uns ja zu unserer Verzweifelung sagen: Wenn schon verzweifelt, dann mit Überzeugung. Und Brian Jones riss Grenzen ein, die wir nicht mehr zu übertreten brauchten. Alle vier ebneten uns den Weg, den sie selbst gegangen waren. Nur: wir gingen nicht. Curt Cobain rechne ich übrigens nicht in die erste Reihe des Clubs. Aber am besten rechnen wir gar nicht mit Reihen. Wir müssen doch mit unseren Schemata nicht auch noch unsere Toten terrorisieren, besonders nicht unsere Besten.

 

5.
„Don`t forget to Boogie“. Mit diesem Satz beendete Bob „The Bear“ Hite jedes Konzert von Canned Heat. Bob war der beste Freund von Al Wilson. „The Owl“ oder „Blind Owl“ wurde Al wegen seiner starke Kurzsichtigkeit genannt. Er beobachtete Insekten und Pflanzen, lernte ihre Namen auswendig und war extrem kurzsichtig. Canned Heat. Er gehört, so meint man, zur zweiten Reihe des Club 27. Warum eigentlich? Weil er nicht so glitzerte wie die anderen? Weil er meist schlecht gekleidet, in Jeans und kariertem Holzfällerhemd daherkam ähnlich wie Rory Gallagher, der irische Gitarrist, Antistar und Intellektuelle? Für mich steht Al Wilson ganz vorne in der ersten Reihe. Er ist das Symbol der missverstandenen 68er-Bewegung und nur wer das versteht, versteht. Was ist es denn, was mich Al Wilson so schätzen lässt? Erst einmal genau das, was er NICHT war: der Strahlemann eben, der Star, der Frauenheld, der Showman. Verklemmt stand er auf der Bühne, mit piepsiger Stimme, die seit dem Konzert eine Schicht rauen und kratzigen Abschied beinhaltete. Die genau da begann, auf Wiedersehen zu sagen, als die Korruption in die Rockszene Ende der 60 Jahre Einzug hielt. Vielleicht war Al Wilson der einzige unter allen Anwesenden in Woodstock, der bemerkte, dass dieses Konzert nicht der Anfang, sondern das Ende einer, zugegebenermaßen sehr kurzen Epoche war. Und vielleicht bemerkte er diese Tragödie nur deshalb, weil seine eigene Tragödie parallel dazu verlief. Seine seelischen Augen waren ebenso scharf, wie seine physischen kurzsichtig waren. Er sah, dass es neben allem anderen Pflanzen und Tiere gab, und er sah, dass das praktisch niemand sah. Gut, es gab bereits Ende der 50er Jahre das Buch „der stumme Frühling“ von Rahel Carson. Aber wer las das schon. Alan erkannte, dass sein Leid und das Drama, dass ihn umgab, dieselbe Ursache hatten. Fito de la Parra, der Drummer von Canned Heat sagte viele Jahre nach Alans Tod, er habe gar nicht bemerkt, das Alan derartig depressiv war. Und andere bemerkten nicht, dass es bereits damals so war, dass derjenige oder diejenige, die heute nicht krank sind, auch nicht gesund sein können. Alan Wilson sang: “I gonna leave the City, got to get away. There`s a brandnew game that I wanna play.” Aber niemand verstand damals das “neue Spiel”. Und deshalb fühlte Al diese unendliche Einsamkeit in sich. Auch unter 200 000 Menschen in Woodstock. Wer sich anhört, wie und was er dort singt, der kann all dies in seiner Stimme hören, während er „Going up the Country“ singt. Woodstock verkehrt, Ausdruck der Todessehnsucht, nicht der Blümchen. Das ging gar nicht, jedenfalls nicht für die Filmemacher.

 

6.
Ich wollte Jimi Hendrix mit dem, was ich über ihn geschrieben habe, nicht unrecht tun, auch den anderen aus der ersten Reihe nicht. Eigentlich sollte man über Hendrix schweigen, denn was haben wir von seiner Musik verstanden, 40 Jahre später? Er hat die moderne Rockgitarre geprägt. Er war kein guter Sänger. Seine Aufnahmen sind technisch teilweise schlecht. Aber wer hat sich denn schon die Frage gestellt, warum Jimi Hendrix genau die Musik gemacht hat, durch die er so berühmt wurde? Selbst unsere Musikwissenschaftler werden bei Hendrix zu reinen Sozialforschern oder Historikern. Warum eigentlich? Es ist eigentlich ganz einfach zu hören. Grausiger verzerrter Abgrund, die Kriegsmaschine wird in der Musik hörbar, Gewalt, Hass, Hässlichkeit. Das alles auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite unglaubliche Schönheit, frei schwebend über diesem Abgrund, illusionäre Klangfarben, Rausch und Licht auf der anderen Seite. Und dazwischen: der Mensch Jimi Hendrix mit seiner Gitarre in der Hand in dem Versuch, zwischen diesen beiden Gewalten das Gleichgewicht zu finden, und in dem Gleichgewicht den Weg. Für den Weg war es zu früh, denn die Gewalten waren unbarmherzig, sie rissen ihm den Atem aus der Seele. Und erträglich wurde das Ganze nur durch Drogen, einer Art dritter Gewalt, die so tat, als wenn sie von außen kam, in Wirklichkeit aber den Kampf von innen her in die Seele trug. Von drei Seiten her stürzte es auf Jimi Hendrix ein. Da starb er mit 27 Jahren. Wer würde da nicht früh sterben. So früh. Zu früh. Aber in seiner Musik begegnet uns der unentschiedene Kampf zweiter Kräfte, die als Satan und Luzifer den Menschen an die Erde binden oder ihn von allem irdischen befreien wollen. Und diesen unentschiedenen Kampf stellte Jimi Hendrix in ungeheurer Intensität vor uns hin. Und wer Jimi Hendrix Musik bewundert, der tut es aus diesem Grund, weil er merkt, welch ein Mysterium sich in dieser Musik abspielt. Genügend Gargoyles enthält sie auch und manch einer erträgt es gar nicht, sich dieser Musik einmal genauer zuzuwenden. Weil man solche Musik entweder richtig anhört oder gar nicht. Dazwischen liegt nichts. Inzwischen wissen wir das.
Und die Schönheit und die Hässlichkeit? Die führt in unserer modernen Zeit einen unentschiedenen Kampf gegeneinander oder soll ich besser schreiben: miteinander? Der alte Schönheitsbegriff ist lange dahin, auch wenn Mensch das heute noch nicht immer bemerkt. Und eine neue Schönheit wächst aus diesem unentschiedenen Kampf. Der Beweis? „Star-Spangled Banner“, zu hören in dem Woodstock-Konzert am 17.August 1969.

 

7.
John Lennon trat nicht in Woodstock auf, weil die Beatles nicht in Woodstock auftraten. Wie viele andere auch nicht. Manche waren zu wild (The Doors, Rory Gallagher), andere kamen nicht rechtzeitig zur Bühne (Iron Butterfly), manche wollten zu viel Geld (Stones, Eric Clapton). Doch muss ich zu den Beatles ein Wort sagen. Denn ohne sie geht natürlich gar nichts, auch keine Schreiberei über Woodstock. Denn die Beatles waren so groß, dass sie natürlich dabei waren, auch wenn sie nicht dabei waren. Das gleiche gilt für Eric Burdon. Und Eric Burdon und die Beatles verbindet etwas sehr Wesentliches.
Die Beatles haben versucht, die Musik ganz neu von unten her zu begründen. Und zwar von zwei Seiten her. Die erste Seite ist die soziale Seite. Der klassische Mainstream war nach zwei Weltkriegen als gescheitert anzusehen. Es mag da Ausnahmen geben, zum Beispiel Béla Bartok. Aber ein Kulturimpuls ist das alles nicht mehr. Das mögen diejenigen, die mit der klassischen Musik leben und besonders die, die VON IHR leben nicht zugeben. Aber so wie die Philosophie um 1900 zu Ende ging (vielleicht vorläufig, denn ohne sie geht’s nicht), so starb auch die klassische Musik, wenngleich sie Ende der 60er Jahre auch eine Blüte trug. Aber schon in den 70ern komponierten Komponisten der klassischen Linie wieder wie Gustav Mahler. Ich weiß, das ist jetzt sehr vereinfacht, aber es ist hier auch nicht mein Thema. Anfang der 60er Jahre kamen da nun vier langhaarige junge Männer, denen die Welt nach und nach zu Füßen lag. Sie schufen eine Musik, die die Menschen dort ansprach, wo die klassische Musik sie schon lange nicht mehr erreichte. Und von hier unten aus machten sich die Beatles auf den Weg nach oben. Man höre heute einmal wieder konzentriert „Abbey Road“ und frage sich dabei: was bringt mir diese Musik. Die Antwort gebe jeder und jede sich selbst. Aber: jedes Motiv und jeder Übergang stimmen, jedes Stück, selbst „Maxwell`s Silver Hammer“ gehört dazu. Die gehörte Musik trägt alle Anzeichen von Kunst! Darf das sein?
Und wenn dann noch Paul McCartney erzählt, wie er und John Lennon komponiert haben: aus der Wahrnehmung der Route 66 heraus wird Musik, die Wahrnehmung der Straße wird musikalisiert, dann ist das geradezu erkenntnis-theoretisch hypermodern. Nicht mehr wird eine Idee vermaterialisiert, sondern das Material wird idealisiert. Doch jetzt halte ich inne, sonst beginne ich zu begründen, warum diese Art des Komponierens zutiefst christlich im allerbesten Sinne und ohne Beschädigung andere Religionen ist… Jetzt halte ich inne.

 

7.
Und was hat das jetzt mit Eric Burdon zu tun? In einer norddeutschen Stadt habe ich mal ein Bierchen mit ihm getrunken. Eric lebt genau den sozialen Impuls der Beatles bis heute, hat er ihn doch zur selben Zeit eingeatmet wie John, Paul, George und Ringo: im Jahr 1963. Und dieser Atem hat ihn nicht mehr losgelassen und er ihn auch nicht. Eric Burdon komponiert zunehmend auch aus der sinnlichen Wahrnehmung heraus. Auf seiner letzten CD gibt es ein Stück „Highway 62“. Dieter Kaiser schreibt auf der Homepage von FFM-Rock in der Rezension der CD: „Man fühlt sich an die Route 66-Zeit erinnert“. Nein, Dieter, nicht erinnert, es IST die Zeit, denn und spätestens jetzt gehöre ich für viele (hoffentlich nicht zu viele) zur „gescheiterten Generation“: die „Route 66-Zeit“ ist ein Bewusstseinszustand. Keine Angst: die 68er-Bewegung kommt so schnell nicht wieder, denn erstens ist sie in Spurenelementen da und bleibt auch da und zweitens wird sie natürlich in einem anderen Gewande wiedererscheinen. Stellen wir uns einmal vor, eine der ältesten Lehren der Menschheit, die Reinkarnationslehre, wäre war. Jeder Mensch würde wieder geboren werden, sagen wir mal, so nach vielleicht 150 – 300 Jahren. Und nun stellen wir uns einmal vor, John Lennon würde wieder als Baby zur Welt kommen. Und Jimi Hendrix und Janis Joplin. Und Jim Morrison. Und mein liebster Freund Al „Blind Owl“ Wilson. Und der Namensgeber meiner alten Band: Muddy Waters. Mit welchen Erfahrungswerten würden sie zurückkommen? Ich finde, ein interessanter Gedanke. Als George Harrison im November 2001 starb, wurde ihm ein Nachruf hinterher geworfen, in dem ihm versprochen wurde, dass ihm großer Dank gebührt und es wurde ihm versprochen, dass wir alle beim nächsten Mal besser vorbereitet sein würden….

 

8.
Tat twam asi: Das bist Du. Du bist alle Deine Wahrnehmungen. Mein Gott! Solche Worte stehen heute im luftleeren Raum, Nehme man das ernst, müsste man ja alles ernst nehmen. Aber genau das ist wohl auch verlangt heute. Und da waren wir schon mal weiter. Die 68er-Bewegung, aus der die Umwelt-Bewegung hervor gegangen ist, auch wenn sich außer Al Wilson kaum jemand seinerzeit dafür interessierte, aus der die Friedensbewegung hervor gegangen ist, hat Werte geschaffen. Frauenbefreiung war 1968 kein Thema. Trotzdem wäre die feministische Bewegung (um nicht DER Feminismus schreiben zu müssen) heute nicht da, wo sie steht. Ohne den hemmungslosen Sex und Alkoholkonsum einer Janis Joplin erheblich weniger selbstbewusste Frauen. Janis Joplin entschied selbst, mit welchem Mann sie schlief. Das unterschied sie von vielen Frauen ihrer Zeit. Und heute? Die Versorger - Mentalität unter Frauen nimmt in den letzten Jahren wieder zu. Ein echtes Roll-Back. Vermehrt das Problem, dass sich 13 oder 14-jährige Mädchen sich ganz bewusst schwängern lassen, um die Zukunftsangst zu verlieren. Das sind keine Niederlagen einer gescheiterten 68er-Bewegung. Das ist ein Rollback in Zeiten lange davor. Und wenn es so weiter geht, brauchen wir sehr bald wieder eine  neue, ganz andere 68er-Bewegung und wahrscheinlich nicht erst 2068.

 

9.
„Die Welt ist nicht so, sie ist ganz anders“, soll Schopenhauer gesagt haben. Irgendwie hat dieser Satz etwas Surreales. Und die Zeit um 1970 erschien mir persönlich wie ein lebendiges surrealistisches Gemälde. Dabei haben sich meine Drogen-Erfahrungen recht einfach gestaltet. Haschisch machte mich depressiv und deshalb mied ich es. Und um mit härteren Sachen Karriere zu machen, hatte ich zu viel Phantasie. Wie gesagt, die Welt erschien mir schon so reichlich surreal. Massen von Touristen unter LSD-Einfluß zu beobachten war nicht meine Welt. Dafür war und ist Tanzen meine absolute Leidenschaft und später auch meine Profession geworden. Wer hätte das gedacht. „Don`t forget to Boogie“ habe ich wörtlich genommen. Denn nur Bewegung macht Bewegung. So ist es. Ich war 1968, ehrlich gesagt, erst 14 Jahre alt. Ich kann mich noch gut erinnern, dass wir dann ein Jahr später, 1969, in dem kleinen Nordseestädtchen eine Anti-Vietnam-Demonstration organisiert haben. Wir waren etwa 50 junge Leute, die beiden Inselpolizisten liefen vorne und hinten und an der Straße standen unsere Eltern und riefen: „Geht doch erstmal zum Friseur“. Jahre später gingen sie dann selbst einmal auf die Straße, warum weiß ich nicht mehr, und wir haben sie unterstützt. Die schräge Wiese am Strand von Wyk auf Föhr ist inzwischen zubetoniert.

10.
Warum waren wir damals eigentlich so? Aus was entstand die Hippie-Bewegung? Die 68er-Bewegung, die Studenten-Bewegung? War das, was uns damals in den Seelen lag, meinetwegen als Sehnsucht, schon in der Welt, die uns umgab, vorhanden? Ich meine: nein, denn weshalb sonst der Protest. Und in einem eine Sehnsucht ist, so sagte ich mir irgendwann, nach etwas, dann muss man es doch kennen, denn woher kommt sonst die Sehnsucht. Vielleicht ist das Bewusstsein dessen, wonach man sich sehnt, nicht oder nur zum Teil da,  kann sein. Aber tief in einem muss ein Bild dessen sein, wonach man sich sehnt, sonst könnte man sich gar nicht nach etwas sehnen, was es noch nicht gibt. Herrlich doppelt dieser Satz: Es gibt nichts, was es nicht gibt. Aber vielleicht ist das nun auch wieder zu philosophisch. Aber wir brauchen andererseits die Philosophie, denn wie sollen wir sonst verstehen, was wir selbst erlebt haben? Und in der 68er-Bewegung hatte Philosophie Hochkonjunktur. Lebhaft erinnere ich mich des Schreckens, der mich befiel, als mir ein Freund bewies, dass das Schiff, mit dem wir gerade fuhren, in Wirklichkeit gar nicht existierte. Das machte mir echt zu schaffen. Die Lösung bleibt hier offen und es bleibt den Leserinnen und Lesern völlig frei, ins Wasser zu stürzen. Vorher aber die Rettungswesten anlegen und das Rauchen einstellen. Ach ja, Rauchen in öffentlichen Gebäuden, zu denen auch die nordfriesischen Fähren gehören, gibt es ja inzwischen nicht mehr.

 

11.
Ich weiß nicht, bin ich eigentlich mutig, hier die 68er-Bewegung derart in den Himmel zu loben? Aber ich bin mir nicht mal sicher, ob ich das bisher getan habe. Also noch nicht die Messer wetzen. Wie soll ich eigentlich diejenigen nennen, die meinen, die 68er-Bewegung sei eine Versager-Bewegung? Soll ich sagen: die 33er? Aber da würde ich wahrscheinlich manchen Unrecht tun, zumindest oberflächlich. Was gibt es da für seltsame Kritiken. Da meint doch glatt einer, der damals auch irgendwie dabei war, die 68er-Bewegung sei immer schon Anti-Amerikanisch gewesen. Der, der das meint, der heißt Horst Mahler und war mal RAF-Anwalt und hat sich inzwischen in die Parteiführung der NPD beziehungsweise ins Gefängnis verirrt. Mit der Verleumdung der 68er meint er, seinen eigenen Anti-Amerikanismus entschuldigen bzw. begründen zu können. Himmel, ein Verirrter! Das wird ein Stück Arbeit! Fehlt nur noch, dass er sagt, Jimi Hendrix und Rudi Dutschke seien Faschisten gewesen.
Aber es gibt andere, die meinen, die Anti-Autoritäre Erziehung der 68er sei verantwortlich für manche heutige Disziplinlosigkeit. Dabei hat es eine anti-autoritäre Phase in deutschen Schulen überhaupt nicht gegeben, wenn man vielleicht von einzelnen einflusslosen  Lehrerinnen und Lehrer mal absieht. Schon verwunderlich, wie man Dinge verdrehen kann. Also durch Sitzenbleiben bin ich bis 1974 zur Schule gegangen. Ich hatte vielleicht einen antiautoritären Lehrer und der war das auch nur ein halbes Jahr. Dann gab er auf.

 

12.
Natürlich bin ich traurig, Alan Wilson und Bob Hite nie persönlich kennen gelernt zu haben. Oder Janis und Jimi. Aber ich glaube Du verstehst, warum mir Al und Bob näher liegen. Sie hatten beide nichts Göttliches, dass heißt, das stimmt nicht ganz. Aber das Göttliche war nicht so strahlend wie bei Jimi, nicht so beängstigend wie bei Jim, nicht so Chaotisch wie bei Janis. Es war eine ganz einfache seelische Schönheit, die mir aus Alan und Bob entgegenstrahlte. Ihr Gott leuchtete im Inneren und man muss sich in sie hinein begeben, um dieses Licht leuchten zu sehen. Ja genau, das Aufdringliche ging beiden ab. Bob fast ganz, Alan war das wesensfremd. Und das kann ich schreiben, obwohl ich sie nur von Schallplatten und dem Beat-Club kenne, vom Film über Woodstock und über Monterey und aus Dokumentationen. Ich weiß, das wofür sie standen, existiert und jeder Mensch steht für etwas und das, wofür ein Mensch steht, IST der Mensch. Also, was solls, wir brauchen uns nicht zu streiten, besonders nicht über etwas, was so selbstverständlich ist, wie die Reinkarnationslehre. Schon Lessing sagte, ist es denn das einzige, was gegen diese Lehre spricht, dass sie die wohl älteste Lehre der Menschheit ist? Und Lessing hatte nun mit Rock und Blues gar nichts zu tun. Oder mit der 68er-Bewegung. Aber, da habe ich doch was übersehen: vielleicht doch? Na, ich habe, wer hat es bemerkt, bereits die Beatles erkenntnis-theoretisch in die Nähe Goethes gerückt. (Jetzt ist es raus!). Da macht es dann echt nichts mehr, auch Lessing zu Wort kommen zu lassen. Die Goethezeit: war sie (Werther!) ein Vorläufer der 68er? Gibt es vielleicht solche historischen Wellen? Und was folgt jetzt? Und schlagen auch schlechte Jahre ihre Wellen? 1933 Revisited?

 

13.
Ich habe auf der ersten Seite geschrieben: Wie kann man darüber streiten, ob etwas gescheitert ist, was es im tiefsten Kern nie gegeben hat? Und jetzt habe ich so vieles geschrieben, was es gegeben hat. Liegt darin ein Widerspruch? Was hat es denn nicht gegeben. Na, da muss ich doch auf den Club 27 zurückkommen. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Diesem Satz müssen wir uns zuwenden. Also er bedeutet:

  1. Was es nicht gibt, kann es nicht geben.
  2. Es gibt alles.

 

Ungeheuerlich eigentlich, dieser Satz rockt wie der Refried Boogie von Canned Heat! Und der Club 27 trägt ein Versprechen in sich, dass das, was die Club-Mitglieder nicht haben ausleben können, nicht verloren ist, weder für sie, noch für uns. Es wird später reifen. Es hat in diesem Sinne die 68er-Bewegung wirklich nicht gegeben, denn wie viele haben nicht ausleben können, was „von selbst aus ihnen herauswollte“ (Hermann Hesse). Dazu gehört natürlich auch Rudi Dutschke. Dazu gehört ein Jan Palach und die vielen Opfer ähnlicher Unruhen. Was sich die 68er vorwerfen können, die Hippies, was ich mir vorwerfe, das ist ein bestimmter Teil einer unerhörten, missbrauchfähigen Naivität. Naivität ist ja eigentlich etwas sehr schönes. Aber es gibt eine Naivität, die mit Verantwortungsgefühl kompatibel ist. Und als Erwachsener kann man die bewusst ausbilden, ohne kindisch zu sein. Kindlich ist gut, kindisch auf Dauer ein Desaster. Was lebte in der vielfältigen Rebellion der 68-Bewegung? Es war das, was auf diese Welt wollte und Unverständnis erntete. Es wurde damals zum Beispiel „Love and Peace“ genannt. Liebe und Frieden. Niemand wird dagegen etwas einwenden. Aber die Mittel, die damals zur Verfügung standen, haben ausgereicht, einen starken Einfluss auf die Beendigung des Vietnam-Krieges auszuüben. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Heute wäre wohl nicht mal das möglich, die Wirtschaftskrise sitzt vielen im Nacken. Widerstand ist derzeit Mangelware, fast unanständig. Widerstand auch gegen was? Gegen unseren eigenen Egoismus – aus Egoismus? Vielleicht ist die weltweite Bewegung für ein bedingungsloses Grundeinkommen  ein neuer Ansatz. Wir werden sehen.

 

14.
Heute kann man von einem Staat wie Nordkorea unwidersprochen als von einem kommunistischen sprechen. Und von einer Diktatur. Also von einer kommunistischen Diktatur, in der der alternde kranke Staatschef seinen Sohn zum Nachfolger kürt. Und ich dachte immer, das sei eine Monarchie. Seltsam. Da hat wohl jemand etwas missverstanden. Verwirrung der Begriffe. Sprachverwirrung. Babel. Entsorgungsparks. Angestellte als Kapitalrücklage. Hartz als Sozialprogramm. Wer nicht arbeitet, ist entweder ganz reich oder ganz arm. Erstere bewundernswert, letztere Schnorrer. So ist das. Frage mich niemand, warum. Arbeitsplätze, das Kultwort des Jahres. Ist ein Zeitarbeitsplatz ein Arbeitsplatz? Ist ein 1-Euro-Job ein Arbeitsplatz? Und auf der anderen Seite sterben täglich Tierarten und Pflanzenarten unwiederbringlich aus. Die Meere werden leer gefischt. Suchen wir doch schon mal Gründe, mit denen wir den Indern, Afrikanern und Chinesen untersagen wollen, so viel Fisch zu essen, wie wir. Und: für alles ist kein Geld da. Dabei wurde noch nie auf dieser Welt so viel Geld verdient, wie in den letzten 20 Jahren. Alles die Schuld der 68er? Wohl kaum. Aber es gibt nichts, was es nicht gibt. And don`t forget to boogie! Es wird eng und enger. Wirtschaftskrise, Umweltzerstörung. Wegsehen, wegdrücken, unterdrücken. Und Migrantinnen versuchen, von Calais aus durch den Tunnel nach England zu flüchten, weil sie meinen, dort eine bessere Welt zu finden, eine Chance zu haben. Irgendwie nicht zu glauben, das alles. Welche Welt ist gescheitert? Spätestens heute hätte sich „Blind Owl“ auf den Hügel hinter Bobs Haus gelegt, eine Flasche in der Hand und ein Lächeln im Gesicht, um zu schauen, ob es vielleicht eine andere Welt jenseits aller Tunnels gibt. „Dorthin schauet und zurück deutet der kommende Gott.“ So ein großer „Verrückter“ namens Friedrich Hölderlin, der vor Kindern den Hut zog und Professoren ungegrüßt ließ. Ein Gedicht zwischendrin:

Der arme Hölderlin im Deutschen Herbst

Versteckt.
Terror.
Terror nach innen.
Ulrike nahm ihn in die Hände.
Nun nimmt Hölderlin
Ulrike
in sein Herz.
Für immer.

(A. W.)

 

In Andrej Tarkowskis „Opfer“ fragte ein kleiner Junge in der allerletzten Szene des Films: „Im Anfang war das Wort. Warum, Papa?“ Müssen wir soweit zurück, um die Lösung zu finden? „I am going to where water tastes like wine“. Antworten? Besserwisser sind mir abgrundtief unsympathisch. Für Arroganz ist die Zeit viel zu ernst, „um sie mit Las-Vegas-haftem Colgate-Lächeln totzublödeln“. (André Heller) Wo er recht hat, hat er recht. Humor ist in Ordnung, denn es gibt einen Humor vor und einen nach dem Ernst. Aber beim Scherzen bitte nicht wieder von einer automatischen Hochtür aus zehn Metern Höhe auf die Füße fallen und sich alle Gelenke zertrümmern, wie damals in Paris, Bob! Denn wie willst Du mit kaputten Gelenken noch den Boogie tanzen? Klar, das brachte sowieso ohne Al keinen Spaß mehr, das weiß ich doch! Ohne Euch die  vom Club 27 brachte uns Übriggebliebenen, später einmal Nachfolgenden, aber auch so vieles keinen Spaß mehr. Ehrlich. Ein bisschen sauer bin ich schon auf Euch. Curt Cobain will ich da ausnehmen. Der kam ja erst später. Da war der Drops schon gelutscht, der saure.

 

15.
Doch was kommt jetzt? Wohin führt uns die Ratlosigkeit oben und die Orientierungslosigkeit unten? Wo ist unsere Kassandra? Bertrand Russell? Carl Amery damals? Oder heute Peter Scholl-Latour? Ich las kürzlich: Hass ist Liebe, die keine Möglichkeit findet, sich auszuleben. Wie viel Liebe steckt in Osama bin Laden? Und auf wen oder was richtet sich diese Liebe? Leichter schon: was war das Objekt der Liebe einer Ulrike Meinhof? Einer Gudrun Ensslin? Sie haben keinen Körper mehr, keinen Mund, das zu beantworten. Stellen wir wenigstens die Frage, dann ist eine Hälfte getan. Das andere Ende bleibt offen. Oder auch nicht. Was lieben die Skinheads von heute? Sind diese oder andere Rechte mit einem derartigen Deutschen-Hass erfüllt, dass sie MigrantInnen (oder wie sie sagen: Ausländer)derart hassen müssen, um die Wahrheit in ihrer eigenen Seele nicht zu begegnen? „Hass ist Liebe, die keine Möglichkeit findet, sich auszuleben“. Doch, letztlich findet sie / er die Möglichkeit: in Gewalt. Wie viel ziellose Liebe gibt es auf der Welt? Wie viel Liebe, die sich bereits in Hass  gewandelt hat. Und die Probleme jedes einzelnen Menschen? Wenn wir einmal sagen: jedes kleine Problem ist einen Quadratmeter und jedes große einen Kubikmeter und jedes ganz große einen Kubikkilometer. Könnten wir dann mit unseren Problemen die Erdkugel, den ganzen Weltraum ausfüllen? Wo bliebe da noch Platz für Gott oder die Engel? Und auch für den Teufel mit seinen Heerscharen? Und wer würde den Platz wieder aufräumen, unsere Probleme mit einer kosmischen Müllabfuhr entsorgen? Und das doch bitte umweltverträglich. Oder was sollen wir mit unseren Problemen sonst anfangen?

 

Und noch ein Gedicht:

Wenn der Wind die Zeit
zerstäubt
Und die Saat in unsere Herzen weht,
dann finden wir
den Deutschen Herbst
in uns
und
unter uns.
Zu unseren Füßen liegt die Trauer.

Wir zittern vor den leeren Zeilen
Der Erklärung
Und spüren
Dass Geschichte nicht vergeht.
Wir tragen sie mit uns,
in uns
Unter uns.

Die Schuld, sie bleibt,
ungefragt
und ungebeten
und treibt
zur Wandlung.

Der Tod auf allen Seiten.
Und wir in ihm
Und neben ihm
Leben ihn
Noch.
Mitten im Leben.

Das Zeichen zu lesen,
dass Wahrheit
unverwandelt
die Unwahrheit gebiert.
Denn wir bleiben,
ohne Gedanken
ohne Sinne,
ohne Sinn.
Nur das wird Schuld.
Denn Stillstand gibt es nicht,
nur Wandlung
Zum Guten
Oder
Zum Bösen.

Und unmerklich
vermag es leicht
In uns zu kriechen
Und wir vermeinen
Den Weg zu kennen
und zu wissen,
wohin wir gehen.
Dann wird es immer wieder –
Herbst.

A. W.

 

16.
Vielleicht sind es die letzten beiden Worte des Texte vor dem Gedicht: „… selbst anfangen.“ Aber ich kann den Spruch: alle müssen zunächst mal bei sich selbst anfangen“ nicht mehr hören. Denn die Frage ist doch: bei sich selbst: wo ist das? Was oben bereits geschrieben wurde: ich bin alle meine Wahrnehmungen. Na wo fange ich dann an und wo höre ich auf, im doppelten Sinne? Wenn ich alle Wahrnehmungen selbst bin, dann kann ich mich nicht mehr hinter mir selbst verstecken, ich fange einfach irgendwo an und fange damit bei mir selbst an. So einfach ist das. Hoffentlich ist diese Diskussion damit endlich mal beendet, sie dreht sich sonst immer im Kreis und wirkt letztlich ziemlich lächerlich und selbstverliebt. Also: Schluss damit. Stehen bleiben kann: „ … selbst anfangen“. Basta!

 

17.
Der Club 27 ist Erinnerung, jetzt ist die Zeit des Ablebens der übrigen 68er angebrochen. Freundinnen und Freunde, macht noch was aus dem Rest und wenn dann eure Zeit naht, die Zeit eures, unseres Ablebens, dann lasst es uns jedenfalls mit Anstand tun. Ins Gesicht schauen dabei, bitte. Und in passender Bekleidung, wie immer. And don`t forget to boogie! Und ohne falsche Scham! Da gibt es kein Ent oder Weder. Der Weg ist jedenfalls vorgegeben. Da kommt niemand drum herum. Keine Sterbeverweigerung. Vielleicht hilft aber auch hier ein Pastor, wie damals, bei der Wehrdienstverweigerung. Interessieren tut mich zwar auch hier die Zeit danach, aber davon verrate ich hier nichts, das behalte ich für mich oder für die, die Lust haben, auch heute noch bei ausgehängter Klotür vor den Plakaten von Frank Zappa oder Che Guevara darüber die Nacht durch zu diskutieren. Und die sind leider Gott sei Dank schon vor ihrem eigenen Tod ausgestorben. Selbst Fito de la Parra hat darauf keinen Bock mehr, da bin ich mir total sicher. Und Paul McCartney hat sich an solchen Debatten sowieso nie beteiligt. Auch ganz sicher. Vielleicht gibt es ja doch einen Boogie danach. Für eine Mitgliedschaft im Club 27 ist es zu spät.

 

18.
Und was haben wir gelernt? Für unser Leben, unsere Beziehungen? Sexuelle Befreiung? Na, erstmal war wohl die Selbstbefreiung dran. Die Befreiung von uns selbst. Teilweise haben wir durchschaut, was uns von außen unfrei gemacht hat. Aber was uns aus unserem eigenen Inneren in Ketten legt, das zu durchschauen haben wir eigentlich viel zu lange gebraucht. Oder dafür brauchen wir noch heute Zeit.